Einmal noch im Schnee stehen
Nein, manchmal erscheint das Leben einfach nicht gerecht. Bisweilen trifft es dich mit ungeahnter Wucht. Und die Frage nach dem „Warum?“ – sie bleibt unbeantwortet. So erging es auch Jutta, als vor wenigen Monaten eine Schockdiagnose ihr eigenes Leben und das ihrer Familie gänzlich auf den Kopf stellte. Eigentlich wollte die sportliche und lebenslustige Magdeburgerin den wohlverdienten Ruhestand genießen, gemeinsam mit Ehemann Conny die Welt bereisen und sich liebevoll um ihre Enkel kümmern. Eigentlich.
Doch Jutta ist unheilbar krank. Wie viel Zeit ihr noch bleibt? Wochen, Tage? Ungewiss! Was der 66-Jährigen jedoch geblieben ist, ist ihr bedingungsloser Ehrgeiz, sich nicht einfach kampflos ihrem Schicksal zu ergeben, sondern jeden verbleibenden Moment – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – bewusst zu genießen.
„Ich bin ein begeisterter Wintersportfan, verfolge die Weltcups, unterschiedliche Disziplinen mit Leidenschaft. Und die Tage, die ich selbst auf Skiern unterwegs war - man kann sie gar nicht zählen“, sagt Jutta, die Zeit ihres Lebens einen langen Atem bewiesen hat und nun – ausgerechnet aufgrund einer Lungenerkrankung – auf eine künstliche Luftzufuhr angewiesen ist. „Da steckt man nicht drin“, sagt sie und ergänzt mit glänzenden Augen: „Aber ich wollte noch einmal auf Schnee stehen.“
Um Juttas letzten Wunsch zu ermöglichen, sucht der Wünschewagen Sachsen-Anhalt den Kontakt nach Oberhof und stößt beim Zweckverband Thüringer Wintersportzentrum (TWZ) umgehend auf offene Ohren.
Das Ergebnis: Gemeinsam mit den ehrenamtlichen Helfern Diana Keller und Maik Oswald geht es für Jutta, in Begleitung ihres Mannes, Anfang April nach Oberhof – ohne zu wissen, was sie auf den Höhen des Thüringer Waldes tatsächlich erwartet. „Wir haben extra strahlenden Sonnenschein organisiert – das ist in Oberhof gar nicht so einfach“, wird sie von einem TWZ-Mitarbeiter am Grenzadler begrüßt. Beim Besuch der Schanzenanlage im Kanzlersgrund und weiterer Sportstätten kommt Jutta in Schwärmen: „Das ist toll, dass ich das nochmal sehen und erleben darf.“ Schnell wird klar: Dieser Tag ist ganz nach Juttas Geschmack.
„Als Magdeburger dachte ich immer, es gibt nur Handball und Schwimmen. Nun ja, meine Frau hat mich dann eines Besseren belehrt“, gesteht Ehemann Conny. Entlang der Rennschlittenbahn entpuppt sich Jutta auch als wahrer Bob-Fan. Von den über sechs Meter hohen Kurven zeigt sie sich jedoch mehr als überrascht. Genauso wie von dem jungen Mann, der am untersten Punkt der Bahn plötzlich vor ihr steht. „Hallo Jutta. Ich freue mich, dich kennenlernen zu dürfen. Ich bin der Alexander, aber nenn‘ mich bitte einfach Alex oder Rödi“, sagt Alexander Rödiger, Bob-Weltmeister und zweifacher Silbermedaillen-Gewinner bei Olympischen Spielen. „So siehst du also ohne Helm und Rennanzug aus“, sagt Jutta verdutzt, bevor beide – völlig vertraut – über so manch sportliche Anekdote plaudern und Jutta in ihrem Rollstuhl auf ein etwas abgelegenes Gelände entführt wird.
"Traust du dir zu, mit mir in einem Bob zu fahren“, fragt der Ausnahme-Anschieber, der bereits Bob-Größen wie André Lange in die Bahnen dieser Welt katapultierte. „Klar“, sagt Jutta. „Wenn ich schon hier bin.“ Gestützt nimmt sie in einem 170 Kilogramm schweren Zweierbob Platz, bevor es mit dem Ausnahme-Anschieber auf einer knapp 150 Meter langen Übungsstrecke ernst wird. Jutta strahlt. In diesem Moment gibt es keine Krankheit. Keine Angst. Nur diese ansteckende Lebensfreude. Zum Abschied überreicht der 33-jährige Oberhofer noch ein Geschenk. „Damit du mich nicht vergisst. Das ist unsere Team-Mütze. Da gehörst du jetzt dazu.“
Ein mehr als aufregender Tag neigt sich dem Ende. Doch fehlt da nicht noch etwas? An der LOTTO-Thüringen-Skisport-HALLE macht der Wünschewagen noch einmal Halt. Eingang, Fahrstuhl, Erdgeschoss – und plötzlich liegen Jutta 1.000 Kubikmeter Schnee zu Füßen. „Wahnsinn“, sagt Jutta. Und damit nicht genug. Mit einem speziellen Ski-Gestell des WSV Oberhof 05 steht sie plötzlich nicht nur auf ihrem geliebten Untergrund, sondern bezwingt ihn sogar gleitend. Ein letztes Mal.
Text: Ronny Knoll, Zweckverband Thüringer Wintersportzentrum
April 2019
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